Die Stadt von morgen kommuniziert und wächst mit ihren Bewohnern. Davon ist Stadtforscherin Cornelia Dlabaja überzeugt und erklärt auf einem Spaziergang durch die Seestadt, wie und warum genau das hier so gut funktioniert.
Wo die Linie U2 endet, hört auch die Anonymität der Großstadt auf: Hier, in der Seestadt kennt und grüßt man sich und kann dem Lärm des Großstadt- dschungels für kurze Zeit entfliehen. Und dennoch wurde in diesem Stadt- teil aus vollen Händen Urbanität gesät und fleißig gegossen: Hoch gewachsen stehen die modernen Wohnanlagen im Wiener Norden, dazwischen aber viel Platz für Stadtentwicklung und früh- sommerliche Spaziergänge. „Wissen Sie was?“, setzt Stadtforscherin Cornelia Dlabaja an: „Bei meinem ersten Besuch hier in der Seestadt im Jahr 2014, waren ringsum nur Felder zu sehen.“ Heute, nur wenige Jahre später, findet man hier gemütliche Restaurants und Modeboutiquen, genauso wie eine Keramikwerkstatt oder einen Hundesalon. Für die Wissenschaftlerin der beste Beweis dafür, wie sich die Seestadt weiterentwickelt. Dlabaja ist studierte Soziologin und Kulturwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Wohnbau- und Stadtforschung, soziale Ungleichheit, Migration, Protestforschung und Stadt- entwicklung. Zum Studieren zog es die Wienerin nach Paris, Darmstadt und wieder zurück nach Wien, und auch in die Seestadt: „Im Zuge meiner Forschungsarbeit habe ich phasenweise in der Seestadt gelebt. Insgesamt waren es fünf Monate.“ Warum? „Um Alltag und Innenperspektiven des Stadtteils zu erforschen.“
Von Anfang an dabei
Seit dem Jahr 2008, als Cornelia den Masterplan der Seestadt das erste Mal selbst in den Händen hielt, hat die Forscherin sichtlich einen Narren an diesem Stadtteil gefressen. „Ich wollte wissen, wie dieser Masterplan umgesetzt wird, wie ein neuer Stadtteil aus dem Boden wächst und sich die gegenwärtige Stadtentwicklung vollzieht. Und ich wollte erforschen, wer hier wohnen wird und wie es sich in der Seestadt tatsächlich lebt.“ Gesagt, getan. Dlabaja übernahm die operative Leitung des Besiedelungsmonitorings Seestadt aspern und begleitet gemeinsam mit ihrem Team seit 2015 erstmals für die Stadt Wien wissenschaftlich den Besiedelungsprozess eines neuen Stadtgebiets.
Doch was ist es nun, dass das Leben in der Seestadt so attraktiv macht? „Einerseits die Chance, in einen neuen Stadtteil zu ziehen“, so Dlabaja, „andererseits ist es der Wunsch, im Grünen und vor allem mit Blick aufs Grüne zu wohnen.“ Mehr Natur in Kombination mit Urbanität haben sich die Menschen mit Blick auf die Renderings, also den Werbebildern der Stadtentwicklung, versprochen. „Was man damals aber nicht beachtet hat“, wirft die Stadtforscherin ein, „war die Tatsache, dass die Seestadt zu Beginn natürlich noch nicht fertig war und die ersten Bewohner eingezogen sind, während die Baustelle in vollem Gang war.“ Hippe Cafés oder tolle Shops? Gab es damals natürlich noch nicht. Die Folge: Die Erwartungen an eine grüne, urbane Oase wurden nicht sofort erfüllt. Die Kritik an der Seestadt flammte langsam auf.
Menschen vergessen oftmals den Faktor Zeit, der bei der Stadtentwicklung eine ganz wesentliche Rolle spielt, hebt Dlabaja hervor: „Dieser Stadtteil ist nach wie vor im Werden!“ Stadtplanung sei vergleichbar mit frisch gesätem Gras. „Dieses braucht nun einmal Zeit zum Wachsen, so wie die Stadt selbst und die Nachbarschaft eben auch“, erklärt sie, während wir am Hannah-Arendt-Platz vorbeikommen.
Die Soziologin zeigt auf die gegenüberliegenden Restaurants: „Man muss diesem Projekt einfach Zeit geben.“ Bis 2017 wurde kritisiert, dass es zu wenig gastronomisches Angebot gäbe. Heute laden hier hübsche Restaurants wie das Portobello oder das See22 nebenan zum Verweilen ein.
Dieser Stadtteil ist nach wie vor im Werden. Stadt und Nachbarschaft brauchen Zeit zum Wachsen.
Cornelia Dlabaja
Stadtforscherin
Vorausschauend Denken
Aber, verrät die Expertin, es gebe schon eine Besonderheit, die bereits von Anfang an da war – und zwar die gemanagte Einkaufsstraße. „Die Bewohner waren von Anfang an mit den Dingen des Alltags versorgt. Es gab einen Mini-Supermarkt, der sich jetzt zur beliebten Bäckerei Leo (1) gemausert hat. Aber auch die Bank und weitere Shops, bei denen man schon immer Dinge für den täglichen Bedarf gefunden hat.“ Es ist dieses vorausschauende Denken und Planen, das man laut Dlabaja bei der Stadtentwicklung jedenfalls über das Erreichen von Umsatzzielen stellen sollte. „So etwas, für die damals nur rund 500 Menschen mit Aussicht auf wenig Umsatz, aufzubauen, ist nicht einfach, aber dennoch notwendig, um weitere Bewohner und auch Unternehmen anzulocken.“
Für Dlabaja ist die Seestadt ein Stadtteil, der sich immer weiterentwickelt und auch von seinen Bewohnern und Nutzern lernt. Denn sie sind es schlussendlich, die den Stadtteil mitgestalten. „Es gibt Bewohner, die hier wirklich jahrelang gemeinsam mit Planern in Baugruppen mitgearbeitet haben“, berichtet sie. Ganz oben auf der To-do-Liste: Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Das sticht beim Schlendern durch die einzelnen Wohnhäuser sofort ins Auge. An jeder Ecke sprießt und gedeiht es und „hoch oben auf dem Dach einiger Gebäude findet man Gemeinschafts-Hochbeete“, erklärt Dlabaja, während sie auf die oberste Etage eines Hauses zeigt.
Sieht man sich in der Nachbarschaft um, so könnte man fast meinen, einen Hauch von Dorfromantik zu spüren. Kinder, die in ihrer Sandkiste spielen, freilaufende Katzen, und ältere Damen, die im Gemeinschaftsgarten hinterm Haus fröhlich vor sich hin garteln. Stichwort: Garten – unsere nächste Station. „Der Seestadtgarten (3) ist tatsächlich schon vor der Besiedelung des Stadtteils entstanden.“ Dort wird seit 2011 ökologisch gegärtnert und für biologische Vielfalt im urbanen Stadt- teil gesorgt. Aufgrund der Baustellen- tätigkeiten musste der Garten 2014 in den Südwesten siedeln. „Noch etwas, das die Seestadt von heute und auch morgen ausmacht: ihre wandernde Infrastruktur“, erklärt Dlabaja.
Einmal hier, einmal dort
Denn „typisch für diesen Stadtteil ist, dass viele Geschäfte zuerst als kleine Pop-up-Stores in Erscheinung treten, ehe sie sich zu größeren Unterneh- mungen weiterentwickeln“, erklärt die Forscherin als wir von der Ferne die zuvor schon erwähnte Bäckerei Leo entdecken. Ein Vorzeigebeispiel, wie wandernde Infrastruktur funktioniert. „Zuerst als Mini-Store konzipiert, ist sie nun einer der Treffpunkte für die Seestädter.“ Oder auch „das Studen- tenwohnheim, das als temporäre Lösung für eine bestimmte Fläche gedacht war“. Werden diese Flächen anderwärtig benötigt, so werden die dort platzierten Einrichtungen an einen anderen Standort übersiedelt. So bleiben, laut der Stadtforscherin, soge- nannte Möglichkeitsräume erhalten, die je nach Bedarf unterschiedlich genutzt werden können. Eine vielver- sprechende Herangehensweise, die, so Dlabaja, ein Vorbild für zukünftige Stadtentwicklungsprojekte sein wird. Die vor allem auch neuen Unter- nehmen die Chance geben soll, sich hier ein Business aufzubauen.
Wir sprechen gerade über die wirtschaft- liche Entwicklung der Seestadt, als wir am Buchladen Seeseiten (2) vorbeikommen. „Ein Paradebeispiel für den Unternehmergeist der Seestadt“, schwärmt die Expertin und schweift kurz in die Vergangenheit ab, „denn diese Buchhandlung ist schon von Beginn an Teil der Seestadt“. Einst noch für ihren Mut belächelt, entwickelte sich der auf den ersten Blick unscheinbare Laden zur wohl medial wirksamsten Einrichtung der Seestadt – viel wurde und wird darüber berichtet.
Schließlich werden regelmäßig Lesungen veranstaltet und auch prominente Autoren präsentieren hier gern ihre Werke. „Es sind genau diese kleinen Unternehmen, die so wichtig sind – für die Nachbarschaft und das soziale Gefüge.“
Pioniere der Seestadt nennt Dlabaja diese Unternehmen. „Sie machen anderen Mut, sich ebenfalls hier anzu- siedeln.“ Aber: Wie konnten sie so erfolgreich werden? „Weil sie ständig mit der Stadt und den Bewohnern mitwachsen.“ Da wären wir also wieder – bei der lernenden Stadt. Unser Spaziergang endet, wo dieses Lernen und Wachsen offensichtlich wird – direkt am See. Selbst die Seestadt-Expertin Cornelia Dlabaja wird bei ihren Spaziergängen an dieser Stelle immer wieder aufs Neue überrascht: „Seht ihr die Häuser auf der anderen Seite des Ufers? Noch nicht allzu lange her, war hier nichts außer Felder.“ So entwickelt sich die Seestadt also ständig weiter. So lange, bis vielleicht auch sie ausgelernt hat? Ob das jemals der Fall sein wird, kann uns selbst Cornelia Dlabaja nicht verraten. Aber die Stadt wird es uns wohl noch lehren.
Die kleinen Unternehmen sind so wichtig für die Nachbarschaft, das soziale Gefüge.
Cornelia Dlabaja
Stadtforscherin
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01/2022 Die lernende Stadt
„Die Wirtschaft näher zum Menschen bringen“
Schon in diesem Herbst kann man ihn beziehen: Der Gewerbehof Seestadt als zukunftsträchtiges Pilotprojekt zeigt, wie man die Wirtschaft in ein harmonisches, funktionierendes Stadtquartier integrieren kann.
Auch eine Stadt kann und muss lernen – in der Seestadt gibt es einige Beispiele dafür, wie das planmäßig erfolgt – und manchmal auch schneller als geplant.
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