Interaktive Karte

Autor*in

Barbara Wallner

Veröffentlicht am 01.01.2022

Aus dem Business Magazin "Workflow"

01/2022 Die lernende Stadt

unternehmen

„Die Wirtschaft näher zum Menschen bringen“

10 Minuten
Schon in diesem Herbst kann man ihn beziehen: Der Gewerbehof Seestadt als zukunftsträchtiges Pilotprojekt zeigt, wie man die Wirtschaft in ein harmonisches, funktionierendes Stadtquartier integrieren kann.
„Die Wirtschaft näher zum Menschen bringen“

Die Tischlerei, in die ihre Lehrlinge zu Fuß kommen, der Installateurbetrieb in der Nachbarschaft, die Polstermanufaktur, der man zwischendurch einmal bei der Arbeit zusehen kann. Dieses Szenario ist vor allem im städtischen Raum eine Seltenheit. Die Wirtschaft ist für viele von uns ein abstraktes Gebilde, von dem wir in der Zeitung lesen. Wir asso- ziieren sie nicht mit dem Tischler, der unseren Kasten baut, dem Installateur, der unseren Geschirrspüler anschließt. Die Wirtschaft ist in unserem Zuhause, in unserer Nachbarschaft – und das soll man sehen und wahrnehmen, wenn es nach Rainer Holzer geht, Immobilien- chef der Wirtschaftsagentur Wien: „Die Wirtschaft muss wieder näher an den Menschen heranrücken.“ Wer von uns weiß schon so genau, was in unseren Lebensmitteln verarbeitet ist? Wie eine Couch entsteht? Holzer ist das ein Dorn im Auge. Der jahrzehntelange Trend, Wohnen, Produktion und Arbeiten in getrennten und eigens geschaffenen Vierteln stattfinden zu lassen, ist in der modernen Stadtentwicklung längst als Fehler entlarvt. Ein funktionierendes, harmonisches Stadtquartier mischt diese Nutzungen, lässt sie sinnvoll interagieren.

Maßgeschneidert für die Produktion

Hier kommt der neue Gewerbehof der Seestadt ins Spiel: ein Pilotprojekt, das dieses Konzept veranschaulichen und als Vorbild dienen soll. Ansiedeln sollen sich hier vor allem kleinere und mittlere Unternehmen sowie Handwerksbetriebe – Holzer nennt etwa Glasereien, Möbelbauer und Ähnliches als Beispiele: „Wir wollen in unmittelbarer Nachbarschaft ein Dienstleistungsangebot schaffen, das ein neuer Stadtteil einfach braucht.“ Betriebe brauchen ein passendes Umfeld, damit sie sich entfalten können. In der Stadt ist das nicht einfach – entweder begnügt man sich dann mit Notlösungen oder verlässt die Stadt, erklärt Holzer: „Man kämpft mit der heranrückenden Wohnbebauung und teilweise veralteten Gebäude- strukturen. Da ist es schwer, sich weiterzuentwickeln und zu vernünf- tigen Bedingungen zu wirtschaften.“ Der Gewerbehof denkt die Kombina- tion aus Stadt und Produktionsinfra- struktur völlig neu, so Holzer: „Ein Sorgenkind ist immer die Logistik: Man kann nicht gut parken, muss in zweiter Spur be- und entladen, die Verkehrsanbindung passt nicht. Das macht den Alltag kompliziert und frisst Zeit.

Der Gewerbehof wurde von Anfang an für Produktion konzipiert und schafft all diese Probleme aus dem Weg.“ Zur Ausstattung gehören eine Sammelgarage, eine überdachte Ladezone, in der sogar Sattelschlepper Platz finden, Schwerlastaufzüge, groß- zügige Lagerflächen und eine zentrale Entsorgung von Spezialmüll. Das Gebäude selbst ist auch statisch an die Bedürfnisse von produzierenden Betrieben angepasst, mit entsprechend breiten Gängen für E-Hubfahrzeuge und hohen Deckentraglasten, so dass in jedem Stockwerk produziert werden kann.

„Der Gewerbehof denkt die Kombination aus Stadt und Produktionsinfrastruktur völlig neu. Und er wurde von Anfang an für die Produktion konzipiert.“

Rainer Holzer

Immobilienchef der Wirtschaftsagentur Wien

Geteilte Fläche ist gesparte Fläche

„Bisher sind Unternehmen – oft mangels Alternativen – auf die grüne Wiese gegangen und haben selbst gebaut. Das kostet Platz“, meint Holzer. Was sich sonst also in die Breite ausdehnt, stapelt man hier – und sagt damit einem weiteren massiven Problem den Kampf an: dem Flächen- fraß. Auch Wien werde sich in den nächsten Jahren der Diskussion stellen müssen, wie man den Bedürfnissen einer modernen Stadt gerecht wird, ohne hektarweise Landschaft zuzu- betonieren, ist Holzer überzeugt. Mit Konzepten wie dem Gewerbehof sei das möglich, die Betriebe teilen sich Infrastruktur wie Logistikflächen, Sanitäranlagen und Ähnliches. Dem Thema Klimaschutz wird man auch im Bereich der Energie gerecht, so ist die PV-Anlage auf dem Dach eine Selbst- verständlichkeit.

Platz für Neues. Produzieren im Gewerbehof (re. vorne), rundum Wohnen, Leben, Lernen. Rendering Gewerbehof Seestadt © Wirtschaftsagentur Wien / alice-vis.com, Mirjam Reither

Gutes Ausbildungsnetzwerk

Eine funktionierende Wirtschaft braucht Zukunftsperspektiven – und die sind nun einmal abhängig von den Mitarbeitern der Zukunft. „Ganz in der Nähe ist das Berufsschulzentrum, wo Unternehmen ihre Lehrlinge rekru- tieren können“, erklärt Holzer. Gleich im angrenzenden Quartier errichtet die Stadt Wien ein neues Zentralberufs- schulgebäude für sechs kaufmännische Berufe und die Berufsschule für Bauge- werbe. Der Neubau für 7500 Schüle- rinnen ergänzt dann das Angebot der bestehenden Bildungseinrichtungen in der Nachbarschaft. Dies besteht derzeit aus zwei Bildungscampussen der Stadt Wien, dem Bundesgymnasium am Maria-Trapp-Platz, einer Privatuni- versität und der VHS Seestadt. Wirtschaft – insbesondere Produktion – muss man erleben, ist Holzer über- zeugt. Gerade im Handwerk gibt es so viel zu sehen. Und der Gewerbehof macht es möglich: In der Erdgeschoß- zone sind Schauräume der etwas anderen Art geplant. Hier bewundert man nicht fertige Produkte, hübsch arrangiert und bereit zum Abholen. Nein, die Produktion ist der Haupt- darsteller: „Hier haben wir die Chance zu zeigen, wie Produktion funktio- niert und sich entwickelt. Dinge wie 3-D-Druck werden unsere Gesellschaft und unseren Alltag verändern – je früher sich jeder und jede von uns damit beschäftigt, umso besser.“ Wenn man an der Erdgeschoßzone vorbeispa- ziere, müsse man sehen, dass Industrie keine abgeschottete Geschichte sei, sondern ein lebendiger, sich entwi- ckelnder Bestandteil unseres Lebens.

Hier haben wir die Chance zu zeigen, wie Produktion funktioniert. Dinge wie 3-D-Druck werden unsere Gesellschaft und unseren Alltag verändern.“

Rainer Holzer

Immobilienchef der Wirtschaftsagentur Wien

Mehr Raum. So soll die für 2027 geplante aspern Manufactury aussehen. © Schreiner, Kastler – Büro f. Kommunikation GmbH / schreinerkastler.at, Pichler & Traupmann Architekten ZT GmbH

Gute Anbindung, angenehmes Umfeld

Insgesamt bietet der Gewerbehof Platz für rund 40 Unternehmen, 200 neue Arbeitsplätze sollen hier entstehen. Das bedeutet: 200 Menschen werden einen großen Teil ihres Alltags hier verbringen, werden täglich von ihrem Zuhause zum Gewerbehof pilgern. Unternehmen müssen sich also zwei Fragen stellen: Wie gut ist die Verkehrsanbindung? Und: Fühlen sich meine Mitarbeiter hier wohl?

Der Gewerbehof, gelegen in der Sonnenallee 122, ist keine 5 Minuten Fußweg von der U-Bahnstation Seestadt entfernt, die Mittagspause kann man im Sommer im benach- barten Seepark verbringen. Mit dem Auto ist man in wenigen Minuten auf der A23 und mit der Fertigstellung der bereits in Bau befindlichen Stadt- straße wird die Verbindung noch effizienter sein. Diese wird massiv zur Entlastung von Betrieben und den Bewohnern der Donaustadt beitragen. Die 3,2 Kilometer lange Straße wird teilweise entlang der U2- bzw. der Bahntrasse der S80 und der Regional- bahn nach Bratislava verlaufen und bei Hirschstetten eine Anbindung an die A23-Südosttangente haben. Rund die Hälfte der Stadtstraße wird übrigens unterirdisch geführt, die restliche Strecke ist 2–3 Meter tiefer gelegt.

Pilotprojekt mit Vorbildwirkung

Primär möchte man Handwerk anspre- chen – aber nicht nur. Wesentlich sei es, eine produktive, vernetzte Commu- nity zu schaffen, erklärt Holzer „Wir wollen keine Branche ausschließen, es soll ein gesunder, interessanter Mix werden.“ Die Flächen werden so über- geben, dass Unternehmen sie genau an ihre Bedürfnisse anpassen können. Die Wirtschaftagentur begleitet diesen Prozess und überprüft auch gleich, ob Förderungen möglich sind.

Ist der Gewerbehof einmal etabliert, soll er als Best-Practice-Beispiel posi- tioniert werden, mit Fokus auf den Austausch von Know-how. Schließlich sei es ja nicht das Ziel der Wirtschafts- agentur, nun überall Gewerbehöfe hinzustellen, meint Holzer, vielmehr möchte man Nachahmer finden: „Unser Anspruch ist es, zu zeigen, dass ein solches Konzept funktioniert und zukunftsträchtig ist. So dass die Privat- wirtschaft Interesse daran entwickelt, es nachzumachen.“ Schließlich kann die Zukunft nur dann eintreten, wenn alle mitmachen.

# Weitere Stories lesen

Eine Kommode mit Formen aus dem 3D-Drucker mit der Gravur Incus darauf, im Hintergrund ein White Board mit www.incus3d.com
© EIT Manufacturing
unternehmen | Success Stories

Incus: Schicht für Schicht zur 3D-Metalldruck-Revolution

Das Spin-off des 3D-Druck-Pioniers Lithoz erobert mit seinem innovativen Ansatz im lithografiebasierten Metalldruck das Technologiezentrum Seestadt.

Unternehmen des Monats: WOHN-DIMENSION
unternehmen

Unternehmen des Monats: WOHN-DIMENSION

In der Seestadt trifft Handwerk auf Design! Wohn-Dimension bietet maßgeschneiderte Wohn- und Küchenlösungen – von der ersten Idee bis zum fertigen Möbelstück, alles aus einer Hand.

Vier Männer und eine Frau stehen in einem Garten vor einer Wand und halten farbige kreisförmige Paneelen in der Hand
© FANTOPLAST
unternehmen | Success Stories

FANTOPLAST: Design und Kreislaufwirtschaft erobern den Gewerbehof!

FANTOPLAST Circular Design zeigt, wie Kunststoffabfälle zur Ressource werden. Aus regionalem Plastik entstehen im Gewerbehof Seestadt Paneele für Design und Architektur.

Zwei Männer schauen in die Kamera, es sind nur der Oberkörper und das Gesicht zu sehen
© Wirtschaftsagentur Wien / cornucopia
unternehmen | Success Stories

Sheyn. Schönes Design aus dem 3D-Drucker

Sheyn steht für innovatives Design aus Wien. Architektur inspirierte Wohnaccessoires werden lokal im 3D-Druck gefertigt und finden international Anklang. Aus einem Wohnzimmerprojekt ist ein erfolgreiches Studio gewachsen, das nun sein neues Hauptquartier im Gewerbehof Seestadt hat.

In den Medien: Die Seestadt als internationales Vorbild klimafitter Stadtentwicklung
Stadtentwicklung | leben | unternehmen | wohnen

In den Medien: Die Seestadt als internationales Vorbild klimafitter Stadtentwicklung

Ob Kreislaufwirtschaft auf der Baustelle, CO₂-neutrale Energieversorgung oder leistbarer Wohnraum: Die Seestadt hat schon etliche erfolgreiche Strategien zur klimafitten Stadtentwicklung!

Unternehmen Gesundheit
2025 Innen:Stadt | unternehmen | Success Stories

Unternehmen Gesundheit

Zwei engagierte Frauen, deren Lebensweg unterschiedlicher nicht sein kann, fühlen sich in der Seestadt den Anforderungen der WHO-Gesundheitsdefinition verpflichtet.

Gleichberechtigung von Kindesbeinen an
2025 Innen:Stadt | unternehmen

Gleichberechtigung von Kindesbeinen an

Lil-y am See und PIER05 sind die Aushängeschilder an der zukünftigen Waterfront der Seestadt. workflow sprach mit zwei treibenden Kräften hinter diesen riesigen Immobilienprojekten, der Geschäftsführerin Ingrid Soulier und der Projektleiterin Andrea Gödel.

Energiewende in Kinderschuhen
leben | 2025 Innen:Stadt | Bildung | unternehmen

Energiewende in Kinderschuhen

Mit der Initiative Let's Netz werden Kinder und Jugendliche praxisorientiert und spielerisch an die Themen Strom, Energieversorgung und Nachhaltigkeit herangeführt. Ein besonderer Fokus liegt darauf, auch Mädchen und junge Frauen für technische Berufe zu interessieren.

Stolze Namen, starke Frauen: Seestadt setzt Zeichen
2025 Innen:Stadt | unternehmen

Stolze Namen, starke Frauen: Seestadt setzt Zeichen

Stellen Sie sich vor, unsere Städte erzählen Geschichten – doch die (Erfolgs-)Geschichten von Frauen bleiben oft unsichtbar. Nicht so in der Seestadt: Hier setzen Straßenbenennungen nach bedeutenden Frauen ein starkes Zeichen für Gleichstellung und Erinnerung.

Das neue workflow ist da!
leben | unternehmen

Das neue workflow ist da!

In der neuen Ausgabe des Business-Magazin „workflow“ stehen starke Frauen im Mittelpunkt.