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stadt.schreiben

Veröffentlicht am 26.03.2013

leben | Nachbarschaft

stadt.schreiben: Künstliche Intelligenz



In einem Anfall von Mitgefühl befreie ich eine Topfpflanze aus ihrem tönernen Gefängnis. Ich habe beschlossen, sie der Freiheit zu überantworten, ste...
In einem Anfall von Mitgefühl befreie ich eine Topfpflanze aus ihrem tönernen Gefängnis. Ich habe beschlossen, sie der Freiheit zu überantworten, stecke sie in einen Nylonsack und mache mich auf die Suche nach einer Grünfläche, der ihr zukünftig als Lebensraum dienen soll. Wo ich wohne, ist das gar nicht so einfach. Als ich ein winziges, von rechteckigen Steinen gesäumtes Fleckchen Erde finde und darauf zusteuere, kommt mir ein hässlicher, kleiner Hund zuvor und pinkelt an den einzigen Strauch, der aus dem Erdreich ragt. Mir dreht sich der Magen um. Ich verstehe nicht, warum der Hund nicht angeleint ist, aber das ist er ohnehin, warum er keinen Beißkorb trägt – er trägt einen, ich habe ihn irrtümlich für seine Schnauze gehalten – und schließlich, warum er nicht vor einer Supermarktfiliale angebunden ist und jeden, der durch die elektrisch gesteuerte Tür kommt, erwartungsvoll anblickt, wie sich das für einen Hund in der Großstadt gehört. Auch bei der nächsten Grünfläche habe ich kein Glück. (Textbeitrag: Hanno Millesi) Es handelt sich um einen Spielplatz, und ich – ein einzelner erwachsener Mann – scheue davor zurück, mich an den karenzierten Müttern und Vätern vorbeizuschummeln und eine Topfpflanze, die eben noch bei mir im Regal gestanden ist, in unmittelbarer Nähe ihrer spielenden Kinder einzugraben. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen, deponiere ich den Plastiksack mit der Pflanze vor einem Blumengeschäft. Es ist geschlossen, an der Tür prangt ein gelbes Post-it mit der Aufschrift: Komme gleich! Sollen die sich doch um das Gewächs kümmern. Ich muss zurück an meinen Schreibtisch. Zuhause angelangt, kann ich den Topf mit der Blumenerde nicht vergessen. Wo vorher die Pflanze war, klafft jetzt ein gewaltiges Loch. Ich stelle den Topf neben meinen Schreibtisch, um nicht dauernd aufstehen zu müssen, und blicke in jeder Schreibpause in den finsteren Krater, als werde mir von dort unten zugeflüstert, wie es weitergeht. Schließlich kann ich dem Bedürfnis nicht länger widerstehen und versenke meine Hand dort, wo einst die Pflanze herausgewachsen ist. Es sieht aus, als wäre ich dem eingetopften Erdreich entsprossen. Oder, denke ich, als hätte meine Hand die Form eines Blumentopfes. Ich bleibe noch einige Zeit so sitzen und überlege mir, ob das etwas mit künstlicher Intelligenz zu tun hat.

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