In meinem Nachtkästchen fand ich einen Brief von René Magritte. Das ist nichts Ungewöhnliches, fungiert mein Nachtkästchen doch, wie ich herausgefund...
In meinem Nachtkästchen fand ich einen Brief von René Magritte. Das ist nichts Ungewöhnliches, fungiert mein Nachtkästchen doch, wie ich herausgefunden habe, als eine Art toter Briefkasten und stellt auf diese Weise eine Verbindung mit dem Jenseits her. Personen, die sich dort aufhalten, dient er gelegentlich zur Kommunikation mit dem Diesseits. Ich bin sicher, es gibt eine ganze Reihe solcher Schnittstellen und fühle mich deswegen keinesfalls privilegiert oder gar auserwählt wie manch anderer, befände er sich in einer vergleichbaren Situation.
Wie aus dem Brief hervorgeht, verbrachte René Magritte den größten Teil seiner Kindheit in einer riesigen Siedlung mit hunderten von Wohnungen, mehrstöckigen Wohnblöcken, einem Einkaufszentrum und einem Pensionistenklub (Haus der Silberrücken). Für die Kinder der Siedlung hatten die Architekten in ihren weißen Mänteln lediglich ein paar schmale Rasenstreifen zwischen den Belüftungsschächten des Kellers, den Parkflächen und Müllplätzen mit den verschieden farbigen Tonnen vorgesehen. So kam es, dass René eine dieser Rasenflächen zu seinem ersten Atelier erklärte.
Nachdem seine frühesten künstlerischen Versuche blaue und silbrige Flecken auf dem Wohnzimmersofa hinterlassen und Vaters Pfeife zum Verschwinden gebracht hatten, war er von Madame Magritte mitsamt seinem Malkasten der Wohnung verwiesen worden. Bevor Monsieur Magritte ihm allerdings die Erlaubnis erteilte, nach der Natur, wie man sich damals ausdrückte, zu malen, musste René glaubhaft versichern, dass er in der Lage sei, alleine auf die Toilette zu gehen. Eine solche Selbstständigkeit war in den Augen des Vaters eine Voraussetzung, ehe künstlerische Talente unbeaufsichtigt vertieft werden durften. René gab sich Mühe, und sobald er die Kontrolle über seine Ausscheidungsorgane erlangt hatte, setzte er sich auf den Rasen zwischen den Müll und die parkenden Autos. Dort porträtierte er seine Umgebung, die hoch aufgeschossenen Wohntürme und einige ihrer Bewohner.
Eines Tages verspürte René während des Malens das dringende Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen. Damit nur ja nichts passiere, unterbrach er das Bildnis eines in Anzug und Melone gekleideten Bewohners der Siedlung, obwohl er ihm noch kein Gesicht zugedacht hatte. Eiligen Schrittes begab sich der junge Künstler zu dem Wohnturm, in dem sich das Apartment seiner Familie befand, und orderte per Knopfdruck den Aufzug. Sein Harndrang wurde im Nu so heftig, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als von einem Fuß auf den anderen zu steigen. Da der Turm über fünfundzwanzig Stockwerke verfügte, dauerte es unendlich lange, bis der Lift unten angekommen war. Während der Fahrt musste René sogar dazu übergehen, sich mit zwei Fingern dort zu kneifen, wo er zu zerplatzen drohte. Das alles nutzte jedoch nichts, weil sich die Wohnung der Magrittes im fünfzehnten Stockwerk befand, und der Lift wesentlich langsamer hinauffuhr als hinunter. René hätte gleich unten bleiben können, so aber stand er mit tropfendem Hosenbein vor der elterlichen Wohnungstüre.
Madame und Monsieur Magritte verboten ihm die nächsten Wochen über, im Hof der Siedlung nach der Natur zu malen. Dieses Verbot blieb solange aufrecht, bis René sie überzeugen konnte, dass so etwas nie wieder passieren werde.
Fortan verzichtete René morgens auf den Kaffee und vormittags auf jeden noch so kleinen Muntermacher. Als es wieder einmal soweit war, sprang er beim geringsten Anzeichen der Notwendigkeit, sich zu erleichtern auf und lief, ungeachtet der unfertigen Malerei – er hatte erst in den jeweiligen Bildfeldern notiert, was er wohin male wolle –, Richtung Aufzug. Bereits während der ersten paar Schritte musste er jedoch mit ansehen, wie sich die metallene Türe in gemächlichem Tempo schloss. Als er die verschlossene Türe erreicht hatte und mit seinen zarten Künstlerhänden dagegen hämmerte, antwortete sie mit eisernem Glucksen. Der Lift befand sich bereits auf dem Weg nach oben.
Wieder dauerte es mehrere Wochen, bis René die Erlaubnis erhielt, auf einem der Rasenstücke zu malen. Zunächst hatte Monsieur Magritte gar gemeint, eine weitere Chance werde es nicht mehr geben. Renés aufrichtiges Bemühen und schließlich einige Bewohner der Siedlung, die wissen wollten, warum der Knirps keine komischen Bilder mehr male, stimmten Monsieur jedoch um. Mit strenger Miene erinnerte er seinen Sohn daran, was auf dem Spiel stand. Gehorsam verlagerte René seinen Arbeitsplatz, trotz der intensiv riechenden Tonne mit Biomüll, auf ein Rasenstück in unmittelbarer Nähe des Aufzugs. In der Folge berechnete er, wann sich die Flüssigkeit, die er nur noch zu sich nahm, wenn es gar nicht anders ging, in etwa melden werde. Sobald dies der Fall war, beließ er die Malerei wie sie gerade war, legte den Pinsel beiseite und ging gemächlich Richtung Lift. Erst auf den letzten paar Metern begann er zu traben, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Selbst wenn der Lift sich im obersten Stockwerk befände, musste sich auf diese Weise alles ausgehen.
Auf dem Zettel, der an der Aufzugtüre hing, las er, die Wartung werde höchstens bis nach dem Mittagessen dauern. In seiner Verzweiflung beschloss René, es so zu machen, wie er es das eine oder andere Mal bei Remy, dem Hündchen der Siedlung, beobachtet hatte. Er suchte sich ein halbwegs dichtes Gebüsch. Noch ehe er sein Geschäft beendet hatte, packte ihn jedoch der jeglichem Talent gegenüber skeptische Hausmeister am Kragen und kündigte dienstübereifrig an, er werde ihn unverzüglich seinem Vater aushändigen, damit er eine strenge und, wenn es denn sein solle, auch gerechte Strafe erhalte. Mit der Malerei an der frischen Luft war es nunmehr endgültig vorbei, und der heranwachsende Künstler musste sich damit abfinden, für seine Motive hinkünftig auf die eigene Gedankenwelt zurückzugreifen.
Ist es ein Wunder, möchte der Surrealist am Ende seines Schreibens wissen, dass ein junger Geist nach einem solchen Dämpfer Sympathie für den fantasievollen Umweg hegt und sich jeglichem Anflug einfältiger Logik diskret entzieht?
(Textbeitrag: Hanno Millesi)