Die Freiheit auf zwei Rädern leben
Wer in Wien einen Ort sucht, der das Rad hochleben lässt, wird an der Endstelle der U2 fündig. Ist das Radfahren hier Lifestyle-Statement oder einfach nur smart?

Wenn man an der Endstation der U2 in der Seestadt ankommt, spürt man, dass hier irgendetwas anders ist als im restlichen Wien. Und wenn man das Bild der Umgebung auf sich wirken lässt, wird einem plötzlich klar: Nirgendwo in der Stadt sind so viele Kinder auf dem Fahrrad unterwegs wie hier. Hier hat nahezu jedes Kind, sobald es gehen kann, ein Zweirad unter dem Hintern.

Nachbarschaftshilfe. Wie so oft in der Seestadt passiert vieles gemeinsam und in Kooperation mit den Nachbarn. © Luiza Puiu
Rücksicht auf andere
„Weil bei der Stadtentwicklung auf den schwächsten Verkehrsteilnehmer Rücksicht genommen wird“, sagt Julian Walkowiak, Gründer des Fahrradgeschäfts „United In Cycling“. Die verkehrsberuhigten Flächen und die breiten Wege laden zum Radfahren ein. Das wird sichtlich genutzt – nicht nur von Kindern, generell integrieren die Bewohner der Seestadt das Fahrrad mehr in den Alltag. Auch die freien Radfahrtrainings in der Seestadt werden begeistert angenommen. Somit geht das Mobilitätskonzept der Seestadt voll auf, das darauf ausgerichtet ist, dass 80 Prozent der Wege im Umweltverbund (Öffis, Rad, zu Fuß) und lediglich 20 Prozent im motorisierten Individualverkehr zurückgelegt werden.
Von Daten und Ideen
Da die Mobilitätsdaten seit mehreren Jahren im sogenannten Mobilitätspanel gesammelt und die Wege der Teilnehmer über eine spezielle App aufgezeichnet werden, können Planungen von Mobilitätsangeboten in der Seestadt kontinuierlich verbessert werden. Zudem bildet die gesammelte Datenbasis die Grundlage für innovative Mobilitätslösungen und Forschungsprojekte, die im aspern.mobil LAB der TU Wien stattfinden. Bei der angewandten Forschung in der Seestadt arbeiten Wissenschaft, Verwaltung und Unternehmen gemeinsam mit Anwohnern daran, die urbane Mobilität nachhaltiger zu gestalten.
An der kontinuierlich anwachsenden Fahrrad-Community in der Seestadt trägt das Start-up „United In Cycling“ einen wesentlichen Anteil. Julian Walkowiak, seine Frau Fernanda und Patrick Bischoff gingen 2015 als Gewinner aus dem Wettbewerb „Seestadt orchIDEE“ der Einkaufsstraßengesellschaft hervor. Das Trio überzeugte mit seinem Konzept einer Kombination aus Fahrradgeschäft, Repa raturservice und Kaffeehaus. Denn eines war den dreien von Anfang an bewusst – in einer geselligen Atmosphäre fällt es leichter, die Liebe zum Radfahren in verschiedenen Altersgruppen zu wecken und sanfte Mobilität im Alltag zu verankern.
Durch die Förderung hatte man in der Gründungsphase keinen großen finanziellen Druck. Jahr für Jahr ist man mit der Seestadt mitgewachsen.
„Unser Stammkundenkreis wurde immer größer und wir hatten das Glück, dass wir von Anfang an Woom-Kinderräder in unserem Sortiment hatten. Die Verkäufe gingen durch die Decke und bescherten uns auch viele Kunden von außerhalb der Seestadt.“
Julian Walkowiak
Kinder sind eine ganz wichtige Zielgruppe von United In Cycling. „Vor allem Patrick hat in seiner Zeit als Kindergartenpädagoge beobachtet, dass viele Eltern ihren Kindern durch unzureichende, billige Räder schon früh die Freude am Radfahren nehmen. Wir wollten bewusst eine Trendumkehr bewirken und dafür sorgen, dass Kinder gern radeln.“ Daher gibt es neben vielen hochwertigen Rädern auch ein spezielles Abo, bei dem Kindern von ein bis zwölf Jahren das jeweils passende und gewartete Fahrrad zur Verfügung gestellt wird.

Schaltzentrale. Das Fahrradgeschäft ist beliebter Treffpunkt für Radliebhaber. © Akos Burg
Umzug in neue Location
Beinahe hätte es United In Cycling nicht in der Seestadt, sondern am Wiener Hauptbahnhof gegeben. Dort hat man das Konzept nämlich bei einem Baugruppenwettbewerb zuvor abgegeben. Da sich jedoch die Mühlen der Entscheidungen bei solchen Wettbewerben sehr langsam drehen, entschied sich das Trio auch für die Teilnahme beim Wettbewerb in der Seestadt. Letztlich gewann man beide. Der Hauptbahnhof rief. „Doch wir haben uns für die Seestadt entschieden, weil wir hier schon so stark integriert waren und uns eine neue Vision vorschwebte.“
Man wollte mit der Wien 3420 fünf Nutzungen unter einem Dach realisieren: Café, Verkauf, Werkstatt, Mobilitätspoint und Infopoint. „Um das erfolgreich umzusetzen, hätten wir noch drei Mal so viel Platz benötigt“, resümiert Julian. Zudem kam die Coronapandemie, in der nicht nur der Absatz an Fahrrädern stark zurückging, sondern auch das Geschäft des Kaffeehauses stagnierte. Im Grundkonzept kombinierte das Fahrradcafé 50 Prozent Bike und 50 Prozent Kaffee.
„Das Pendel hat klar in Richtung Fahrradshop und Werkstätte ausgeschlagen und wurde zum wirtschaftlich wichtigeren Teil für uns.“ Das Kaffeehaus wurde abgestoßen und es stand ein erneuter Umzug in eine kleinere Location an. Mit dem Nachwuchs im Hause Walkowiak stieg Fernanda aus dem Unternehmen aus, das sich jetzt die beiden Jungs teilen. Während sich Julian um Organisation und Verkauf kümmert, ist Patrick für den Werkstattbereich zuständig.
Angetan von der Seestadt
Julian und Fernanda sind von der Seestadt so angetan, dass sie sogar ihren Lebensmittelpunkt komplett in das neue Stadtquartier verlegten und hierherzogen. „Wir identifizieren uns mit der Region. Ich war noch nie in einem Stadtteil Wiens sesshaft, in dem ich mich vom Lebensgefühl und Lebensstandard so wohl gefühlt habe. Es gibt genügend Platz, keinen Autolärm und die Mitmenschen wirken entspannt. Radfahren trägt eindeutig zu dieser positiven Stimmung bei.“
Eine Community und neue Radkultur können aber nur entstehen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. In der Seestadt wird eine fahrradfreundliche Infrastruktur geboten. Das beginnt beim kompetenten Radgeschäft: Hier gibt es neben United In Cycling mit dem Geschäft „Dr. Bike“ einen weiteren exzellenten Rad-Spezialisten. Ein Fahrrad-Hotspot braucht aber auch Fahrradabstellanlagen an Verkehrsknotenpunkten, um das Fahrrad etwa nahtlos mit den Öffis kombinieren zu können. „In Bezug auf Sammelgaragen und den zahlreichen autofreien Straßen kann sich ganz Wien vom Radfahrkonzept der Seestadt durchaus anstecken lassen“, ist Julian überzeugt. Um aber generell zu einem neuen Mobilitätsverhalten zu führen, bedarf es vor allem zusätzlich politischen Willen und Vernetzung.
Konzept. Verkehrsberuhigte Flächen und breite Wege machen das Radfahren für Familien zum Vergnügen. © Luiza Puiu
Mehr Netz!
Lang bevor das Rent-a-bike-Service Wien eroberte, wurde in der Seestadt bereits ein eigenes System entwickelt. Die sogenannte Seestadtflotte war dafür gedacht, die letzte Meile zwischen Wohnung und U-Bahn zu überbrücken. „Sukzessive wurde die Seestadtflotte im Zuge des weiteren Ausbaus der Seestadt flächenmäßig kontinuierlich ausgebaut“, berichtet Andreas Neisen, der bei der Entwicklungsgesellschaft Wien 3420 für den Bereich Mobilitätsplanung zuständig ist. „Das System ist aber mittlerweile in die Jahre gekommen und lässt sich nicht mehr erweitern, weshalb nun der Wechsel der Seestadtflotten-Stationen zum WienMobil Rad System vorgesehen ist.“
Für die Seestadtflotten-Nutzer ergeben sich dadurch gleich mehrere Vorteile. So ist das Leihradangebot nicht mehr nur auf die Seestadt begrenzt, sondern kann in ganz Wien genutzt werden. „Dadurch erleichtert sich die Vernetzung per Rad von der Seestadt mit anderen Regionen“, sagt Neisen. „Auch neue Quartiere im Stadtteil, die bisher keine Stationen haben, bekommen eigene Standorte.“
Aktuell betrifft das das Quartier „Am Seebogen“. Hier entsteht zudem eine Station für Lastenräder. „Die Stationen, die zusätzlich dazukommen, werden vom Mobilitätsfonds finanziert, der sich wiederum aus der Abgabe für Pflichtstellplätze in Sammelgaragen speist“, sagt Neisen und erwähnt, dass man in Zukunft auch verstärkt private Initiativen und betriebliches Mobilitätsmanagement implementieren möchte. Auch bei Unternehmen in der angrenzenden Umgebung der Seestadt. „Hier gibt es noch großen Aufholbedarf, um Mitarbeitende vom Auto zum Rad bzw. zu umweltfreundlicher Mobilität zu bewegen.“