Dass die Zukunft dem energieeffizienten und nachhaltigen Bauen gehört, scheint klar. Dass die Prioritäten aber häufig noch
andere sind, ist offensichtlich. Doch ambitionierte Architektur und Nachhaltigkeit können sehr wohl Hand in Hand gehen, auch
ohne große Mehrkosten. Darüber waren sich die TeilnehmerInnen einer Podiumsdiskussion in aspern Seestadt, zu der die Wien
3420 AG am 5. Dezember eingeladen hatte, einig. Auftraggeber sollten Kosten und Nutzen über den gesamten Lebenszyklus eines
Gebäudes gegenüberstellen, riet die ExpertInnenrunde. Dass die Seestadt international als Vorbild angesehen werde, sei kein
Zufall. Die multidisziplinäre Herangehensweise, der Fokus auf die Bedürfnisse der NutzerInnen und das Denken in Quartieren
anstatt in Einzelgebäuden seien die richtigen Ansätze für nachhaltiges Bauen.
Bauherren und PlanerInnen müssen viele Ansprüche unter einen Hut bringen: von nachhaltigen Baumaterialien, über Energieeffizienz-Lösungen
bis hin zu langlebigen, flexiblen Grundrissen und Funktionen – immer unter der Prämisse der Leistbarkeit. Gehen Nachhaltigkeit
und herausragende Architektur unter diesen Rahmenbedingungen überhaupt zusammen oder handelt es sich um die Quadratur des
Kreises? Darüber diskutierte am 5. Dezember ein hochkarätig besetztes Podium in aspern Seestadt unter dem Titel „Architektur versus Nachhaltigkeit? Eine Standortbestimmung“. Anlass dafür war die Auszeichnung
des Seestädter Quartiers am Hannah-Arendt-Park mit dem Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit des Bundesministeriums für Nachhaltigkeit und Tourismus im Rahmen des Programms klimaaktiv.
Das Publikum im bis auf den letzten Platz gefüllten Salon JAspern am Hannah-Arendt-Platz konnte eine lebendige Diskussion
mitverfolgen. Der anfängliche Optimismus, Architektur und Nachhaltigkeit seien kein Widerspruch, verflog, als Heinrich Kugler, Vorstand der Wien 3420 aspern Development AG, auf die vielen neu entstehenden modernen Büroquartiere in Wien zu sprechen kam. Diese seien allesamt „coole
Glaspaläste“, obwohl reine Glasfassaden inzwischen als problematisch gelten. Könne da tatsächlich von Nachhaltigkeit die Rede
sein?
„Viele stellen sich als nachhaltig hin“
Ambitionierte Architektur und Nachhaltigkeit können Hand in Hand gehen, das sei aber nicht zwingend der Fall, stellte Robert Lechner, Geschäftsführer des österreichischen Ökologie-Instituts, fest: „Viele Investorenprojekte haben mit Energieeffizienz nichts
am Hut. Darunter sind ganz berühmte Gebäude mitten in Wien, die sich als nachhaltig hinstellen, also Greenwashing betreiben.“
Natürlich spiele die Frage des Materials – also ob mit Holz, Glas oder mit anderen Stoffen gebaut wird – eine
Rolle, aber die Frage sei vielschichtiger und oft eine der richtigen Anwendung, war sich die ExpertInnenrunde einig. Für Lechner
geht es um die Quantifizierbarkeit von Kriterien. So sei es ein wichtiger Schritt gewesen, dass man sich in der Seestadt mit
einem nachhaltigen Punktesystem selbst eine Benchmark gesetzt habe, die für alle Gebäude gelte, so Lechner, Mitglied im neu
geschaffenen Wiener Klimarat.
Obwohl viele Technologien des ökologischen Bauens heute Standard sind und es Architekturschaffenden daher leichter fiele,
sie in der Planung zu berücksichtigen, wird eine energiesparsame Bauweise nicht von allen Bauherren unterstützt. Aus Sicht
der Architektin Kinayeh Geiswinkler-Aziz braucht es vor allem Auftraggeber, die den Gebäudezyklus im Blick haben, so das Mitglied des aspern Beirats und in dieser Funktion kritische Wegbegleiterin im Prozess der Stadtentwicklung in puncto Qualitätssicherung. „Die
Frage ist: Wie lange kann ich ein Gebäude sinnvoll nutzen und länger behalten? Je länger, desto besser für die Umwelt und
die Nutzer“, bekräftigte Geiswinkler-Aziz.
Langfristigen Nutzen für Menschen
Genau diese Langfristperspektive hat Wolfgang Gleissner, Geschäftsführer der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), stets im Fokus. Auftraggeber sollten nicht nur auf die Errichtungskosten
blicken, sondern vor allem die Gesamtkosten eines Gebäudes über seinen Lebenszyklus betrachten. „Mit unserem Holistic Building Program haben wir ein System entwickelt, das aus verschiedenen Zertifizierungen jene Elemente herauszieht, die mit relativ geringen
Kosten relativ viel bringen“, so Gleissner. Die BIG setzt sich selbst die Latte bewusst hoch: Ab 2020 muss jedes neue Projekt
im Alt- und Neubau zumindest mit der Stufe klimaaktiv Silber bewertet werden.
BIG-Gebäude, wie die Bundesschule Aspern, die ebenfalls den Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit 2019 erhielt, müssten
aber nicht nur nachhaltig im Sinne von energieeffizient sein, sondern auch Nutzen stiften und einen Mehrwert für die Menschen
bieten, so der BIG-Geschäftsführer. Die Qualität für die NutzerInnen steht für Elisabeth Oberzaucher, Verhaltensbiologin und
ebenfalls Mitglied des aspern Beirats, ebenfalls im Mittelpunkt: Ein Gebäude könne noch so energieeffizient sein, wenn es für seine NutzerInnen nicht funktioniere
und entsprechend genutzt würde, wäre es eben nicht nachhaltig, stellte Oberzaucher fest.
In Quartieren denken
Von Relevanz sei aber nicht nur das Gebäude selbst, sondern das Umfeld: „Es hängt immer davon ab, wo ein Gebäude steht, was
rundherum passiert. Wien besteht aus Grätzln. Es gibt eine lange Tradition, dass man in fußläufiger Nähe sämtliche Aspekte
des Lebens abdecken kann. Das ist eine entscheidende Qualität für die Menschen und wirkt nachhaltig“, machte die Verhaltensbiologin
klar.
„Das Quartier wird als ganz zentrale Zauberformel für viele soziale und energetische Probleme angesehen, die sich nicht im
Gebäude lösen lassen“, ist auch Christa Reicher überzeugt. Die Professorin für Städtebau und Entwerfen an der RWTH Aachen University und Vorsitzende des aspern Beirats moderierte die Runde im Salon JAspern. Auf Fachkonferenzen in Deutschland werde die Seestadt oft als Benchmark und
Referenz für Stadtgründungen und nachhaltiges Bauen gesehen, so Reicher. Aber auch die Nahversorgungsstrategie mit der ersten
gemanagte Einkaufsstraße Österreichs und die erfolgreiche Schaffung von bezahlbarem Wohnraum würden international große Beachtung
finden.
Multidisziplinär denken
Einen Erfolgsgarant der Seestadt sieht Christa Reicher im permanenten Lernen und kritischen Reflektieren. Das Zusammenspiel
der Entwicklungsgesellschaft Wien 3420 AG mit ihrem ExpertInnen-Team aus unterschiedlichen Fachgebieten und dem Sparringpartner
aspern Beirat funktioniere sehr gut. Im interdisziplinären Arbeiten sieht auch Regina Freimüller-Söllinger, die in der Seestadt den Gebäudekomplex Sonnenallee mit Wohnungen, Studentenheim und multifunktionaler Hochgarage inklusive
nichtkommerzieller Impulsräume entworfen hat, die Zukunft: Von großem Vorteil sei es, sich gleich zu Projektbeginn mit ExpertInnen
anderer Fachgebiete, wie FreiraumplanerInnen und BauphysikerInnen zusammenzusetzen, so die Architektin. Angesichts der Komplexität
im nachhaltigen Bauen brauche es einerseits Regelwerke und Visionen und andererseits die richtigen Partner. Für nachhaltigen
Lebensraum seien viele Teilaspekte abzustimmen: Freiräume, Mobilität, Soziales etc. und natürlich eine außergewöhnliche Architektur.